Brainspotting – eine junge Methode setzt neue Maßstäbe in der Behandlung von Belastungen, Krisen und Traumata

Das Auge gilt als Fenster zur Seele.

In dieser alten Weisheit liegt mehr Wahrheitsgehalt als bisher angenommen.

 

 

Herr K. sucht meine psychologische Praxis auf. Ich wurde ihm von einer Bekannten empfohlen, weil ich bei ihr angeblich „Wunder bewirkt habe“. Verlegen versuche ich, diese hohe Erwartungshaltung zu relativieren, aber ich muss gestehen, als ich zum ersten Mal mit Brainspotting in Kontakt gekommen bin, hatte ich ebenfalls das Gefühl, ein kleines Wunder zu erleben.

Seit meinem Psychologiestudium hatte ich im Rahmen vieler Weiterbildungen eine ganze Palette an Selbsterfahrung hinter mir und dennoch blieben immer wieder einige „ungemachte Betten“ in meinem Erleben und Verhalten übrig. Nicht schlecht staunte ich, als sich ein paar besonders hartnäckigen Themen, die mich schon lange beschäftig hatten, im Zuge meiner Brainspotting- Ausbildung plötzlich auflösen ließen.

Brainspotting ist eine neurobiologisch fundierte Behandlungstechnik mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten.

 

Herr K. schildert mir den Grund für sein Kommen. Er habe Schlafstörungen, fühle sich unausgeglichen und wäre mit den ständig coronabedingten Veränderungen im Beruf überfordert. Ich erläutere ihm die Funktionsweise des Gehirns, wie unser Sehnerv von den Augen durch alle wesentlichen Regionen unseres Gehirns bis zum visuellen Zentrum verläuft und wie mithilfe von Brainspotting eine Verarbeitung von Belastungen angeregt werden kann.

 

Herr K. erläutert nun seine Symptome ausführlich und zeigt recht schnell eine deutliche Belastung, während er seinen Zustand beschreibt. Auf meine Frage, wo er diese Belastung spüre, deutet er auf seinen Bauch. Ich nehme meinen Zeigestab (wir nennen ihn im Brainspotting „Pointer“) und bewege ihn in einer horizontalen Linie vor seinem Gesichtsfeld von der einen zur anderen Seite.

 

Der Pointer dient zum Finden des Brainspots

 

Herr K. reagiert an einigen Punkten mit unwillkürlichem Zwinkern, veränderter Atmung oder minimalen Gesichtsbewegungen. Ich frage ihn, an welcher Stelle er die intensivsten Reaktionen wahrgenommen hatte und ersuche ihn, mit seinem Blick auf diesem Punkt zu bleiben.

 

Nun beginnt der Teil, den viele meiner Klienten im Nachhinein als sehr verblüffend beschreiben. Besonders jene, die vorher skeptisch meinen: „Ich glaube, ich kann so etwas nicht, was soll denn da schon geschehen“, sind von sich selbst sehr überrascht, denn nach einer Weile des Schweigens übernimmt das Gehirn und der Körper die Führung.

 

Unser Gehirn reguliert sich im Alltag ganz automatisch beim "Narrenkastl-Schaun".

Beim Brainspotting wird zur Verarbeitung eines Themas jedoch gezielt ein Punkt im Gesichtsfeld gesucht, der eine starke emotionale Reaktion auslöst (= Brainspot)

 

Im Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Gehirns warte ich schweigend und sehe starke körperliche Reaktionen bei Herrn K. Auf meine Frage, was er gerade erlebt, meint er, er fühle sich nicht wohl und habe Angst, jetzt im Moment zu versagen und nicht die „richtigen Reaktionen“ zeigen zu können. Ich frage ihn, ob er diesen Druck in seinem Leben kenne und nach kurzem Schweigen berichtet er von seiner Kindheit, seinen sehr leistungsbezogenen Eltern und einem Lehrer, der ihm aufgesessen sei. Seine Atmung wird schwerer und Herr K. durchlebt schweigend einige bisher nicht zugängliche Situationen aus dieser Zeit. Ich sehe ihm an, dass er allmählich ruhiger wird, sage aber noch immer nichts und halte schweigend meinen Pointer.

WAIT (Why Am I Talking) Dieses Prinzip geht davon aus, dass das Gehirn von selbst am allerbesten weiß, was es gerade zur Verarbeitung braucht.

 

Meine Aufgabe als Begleiterin dieses Prozesses ist es, den Rahmen zu halten, dem Klienten die Sicherheit zu geben, dass er sich auf diese Reise einlassen kann und jederzeit von mir Unterstützung erhält, wenn er sie braucht. Voreiliges Nachfragen oder Kommentieren ist hier nicht gefragt. Meine Geduld wird belohnt: „Es wird leichter“ sagt Herr K. leise und atmet hörbar aus.

Im Laufe dieser Sitzung verarbeitet Herr K. noch einige, bisher nicht zugängliche Situationen aus Kindheit, Jugend und frühem Erwachsenenalter, die immer wieder mit starkem Leistungsdruck bzw. Versagen und Verantwortung zu tun hatten. Am Ende verspürt er große Erleichterung und eine emotionale Distanz zu den Geschehnissen. Auch die körperliche Belastung ist verschwunden.

Bei der letzten Überprüfungsfrage, die den Kontext zur aktuellen beruflichen Situation herstellen soll, lächelt er überrascht in sich hinein: „Im Moment frage ich mich gerade, was mir dabei so schwergefallen ist“, und so sollte es auch bleiben. Herr K. hatte seinen Elan wieder gefunden und meistert berufliche Schwierigkeiten wieder mit großem Geschick. Nach wenigen weiteren Brainspottingsitzungen waren auch seine Schlafstörungen endgültig verschwunden.

 

 

Brainspotting eignet sich nicht nur zur Verarbeitung von Traumata, Belastungen oder dem Auflösen von Blockaden. Es ist hoch wirksam bei psychosomatischen Beschwerdebildern und eignet sich hervorragend zur Begleitung kreativer Prozesse und Erweiterung des individuellen Handlungsspektrums.

Es ist für mich immer wieder eine Freude zu erleben, in welcher Effektivität und Tiefe dank dieser Methode positive Veränderungen, Visionen und neue Fähigkeiten entwickelt werden können. Besonders auch in der Paarberatung eignet sich Brainspotting wunderbar, um die Emotionen abzukühlen, die Geschwindigkeit zu verlangsamen und einen wertschätzenden, konstruktiven Prozess entstehen zu lassen.

 

Mag. Isabella Woldrich

Klinische und Gesundheitspsychologin in Linz